Sonntag, 25. April 2010

Der 15 Minuten Mann


„Um sieben Uhr vierunddreißig steht er immer direkt neben mir. Ich kann es auf seiner Uhr lesen.“ Suzuka nippt an ihrem Tee und blickt hinaus auf die Chuo dori. Soeben ist die Fußgängerampel wieder auf grün gesprungen und hunderte farbenprächtige Regenschirme überqueren die Straße. Ihrer Freundin Hiromi ist der Zusammenhang offenbar nicht ganz klar, denn sie erwidert nichts darauf. „ Er hält sich an dem Griff über mir fest. Der Ärmel seines Anzugs rutscht etwas nach unten und ich kann seine Uhr sehen“, erklärt Suzuka.

Die Armada der Regenschirme wartet wieder geduldig auf grünes Licht. Hiromi sagt noch immer nichts. Suzuka kann das Schweigen nur schwer aushalten. „Ich weiß gar nicht, wann ich ihn zum ersten Mal bemerkt habe. Aber es ist wie bei einem unangenehmen Geräusch. Wenn es einem erst einmal aufgefallen ist, kann man gar nicht mehr weghören.“ „Ist es dir denn unangenehm?“, fragt Hiromi nun endlich nach. Suzuka überlegt und betrachtet dabei wieder die wandernden Schirme. Seit Tagen regnet es in Tokyo. Der Ausläufer eines Taifuns nähert sich der Stadt. Sie und ihre Freundin sitzen in einem Café. Sie haben beide eines dieser französischen Miniatur-Törtchen vor sich auf dem Teller. Sie sehen so kostbar aus, dass Suzuka das Gefühl hat, mit der Kuchengabel gleich ein Bild der Zerstörung anzurichten.

„Nein, es ist mir nicht unangenehm. Neulich habe ich um sieben Uhr neunundzwanzig sogar einen Hustenanfall simuliert, damit die Leute um mich herum etwas Platz machen.“ Suzuka lächelt verlegen. „In Wahrheit warte ich auf ihn.“ „Du wartest jeden Morgen darauf, dass ein fremder Mann sich in der U-Bahn neben dich stellt?“, fragt Hiromi etwas ungläubig. „Nein! Ich warte jeden Morgen darauf, dass sich immer derselbe fremde Mann neben mich stellt.“

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